Sie eröffneten kürzlich Ihre letzte Ausstellung an der Londoner Tate Modern: Wolfgang Tillmans’ «2017». Wie haben Sie den Ausflug zurück in die Museumswelt erlebt?
Wir haben die Ausstellung noch vor meinem Wechsel nach Berlin konzipiert. Die Eröffnung war toll und hat eine intensive Zusammenarbeit mit Wolfgang Tillmans gekrönt, den ich für einen aussergewöhnlichen Künstler halte.

Inwiefern aussergewöhnlich?
Die Ausstellung ist seiner «extended practice» gewidmet: Tillmans kommt nicht nur als Fotograf zur Geltung, sondern in der ganzen Bandbreite seines Wirkens. Er ist auf vielen Gebieten aktiv, als Künstler und Fotograf, als Musiker, interessierter Zeitgenosse und politisch engagierter Bürger. Diese Bandbreite spiegelt sich auch im Publikum: Die Ausstellung zieht verschiedene Interessengruppen und Menschen verschiedener Generationen an.

Sie haben das Kunstmuseum für andere Lebensbereiche geöffnet – das legt die Volksbühne-Mannschaft Ihnen als Beliebigkeit aus.
Der Konflikt hat nicht nur sachliche Gründe. Es wird viel Wirbel gemacht – Berlin wird gegen London ausgespielt und die Theaterwelt gegen die Museumswelt. Das liegt auch an Berlin – es ist eine fragile Stadt. Es ist allerdings nicht so, dass man sich als Museumsmann keine Sorgen um die Aufnahmefähigkeit des Museums machen müsste. Das moderne Museum absorbiert alle Disziplinen wie ein Schwamm. Das weckt Begehrlichkeiten bei den Schöpfern und Erwartungen beim Publikum.

Warum halten Sie die deutsche Hauptstadt für eine fragile Stadt?
Das hängt damit zusammen, dass hier eine Zeit lang so vieles möglich schien. Der dynamische Entwicklungsschub wirkte wie ein Versprechen, Künstler strömten aus der ganzen Welt hierher, die Stimmung war die einer ungebremsten Kreativität. Doch nun steigen die Mieten, viele fühlen sich in ihren Hoffnungen getäuscht. Grosswetterlagen wie diese leisten auch paranoiden Gefühlen Vorschub.

«Ich verstehe bis zu einem gewissen Grad das Misstrauen der Kunst gegenüber.»

Bei Ihrem Abgang von der Tate haben Sie angedeutet, dass Ihnen die Nähe von Markt und Kunst Mühe macht. Worauf spielten Sie an?
Die Kunstwelt ist in der letzten Zeit sehr nahe an die Ökonomie gerückt, man könnte auch sagen, dass sie von ihr ausgebeutet wird. Man benutzt ihre kreativen Techniken, um die Geldgewinnungsprozesse zu dynamisieren. Darum verstehe ich bis zu einem gewissen Grad das Misstrauen der Kunst gegenüber. Das hat mich nicht zuletzt am Wechsel in die Theaterwelt interessiert – hier gehts ums Handeln. Man wird zum Protagonisten.

Handelt man als Kurator nicht?
Doch, natürlich. Aber die Kuratoren wählen vor allem aus, fällen ästhetische Urteile. Das Theatralische hingegen hat immer den Hintergrund eines Rituals. Ich könnte meinen Anfang in Berlin als einen Initiationsritus begreifen.

Kuratoren könnten auch handeln, etwa klare Regeln entwickeln, was ins Museum gehört und was nicht.
Der normative Eingriff macht wenig Sinn, wenn Bedürfnisse vorhanden sind. Nehmen wir den Tanz. Viele Tänzerinnen und Tänzer arbeiten heute lieber in einem Museum als auf der Bühne. Man kann die Auftrittsstunden freier wählen, und die architektonische und künstlerische Umgebung ist anregend.

Auch eine Folge des Erfolgs der Museen? Ein Auftritt in der Tate verschafft einem Tanz-Ensemble globale Sichtbarkeit.
Stimmt, und da stellt sich eine weitere Frage: Kann das Museum diesen Erfolg, diese Massen von Besuchern weiter ausbauen? Wir werden in der Tate bald die Grenze von 7 Millionen Besuchern jährlich erreichen. In der Tillmans-Ausstellung hatten wir in den ersten zehn Tagen schon 20 000 Besucher.

Leidet die Qualität des Museumsbesuchs darunter?
Nein, denn das Publikum scheint sich das zu wünschen. Wird eine Ausstellung gut besucht, zieht sie weitere Besucher umso stärker an. Vielen Besuchern geht es dabei gerade um die Begegnung. Diese findet im Zusammenhang mit der Digitalisierung im Alltag oft nur noch virtuell statt.

Begegnung mit der Kunst oder mit anderen Menschen?
Beides. Im Museum findet die Begegnung mit etwas Unbekanntem statt. Das können Werke sein, die befremden, Ideen, andere Menschen. Gerade heute ist das von enormer Wichtigkeit.

Warum gerade heute?
Denken Sie etwa an Grossbritannien, das sich mit dem Brexit vor Europa verschliesst. Ein Haus wie die Tate kann die Karte der Offenheit und Internationalität ausspielen. Das kann in einer solchen Situation wie eine Therapie wirken.

Auch heute setzen Werke von Fischli/Weiss oder Pipilotti Rist einen anspruchsvollen Sinn für Humor voraus.

In welchem Sinn?
Ich würde es am ehesten mit einer Impfung vergleichen. Das Fremde wird in einem geschützten Rahmen und in homöopathischen Dosen verabreicht. In den 1920er- und 1930er-Jahren waren es die Werke von Duchamp oder Dalí, die das Befremden auslösten. Auch heute setzen Werke von Fischli/Weiss oder Pipilotti Rist einen anspruchsvollen Sinn für Humor voraus, der im Museum geübt werden kann. Hier lassen sich die Menschen auf das Experiment ein, ihr Umgang mit dem Fremden wird flexibler, die Abwehrreaktion fällt milder aus.

Ist dies die «globale Konsenskultur», die Ihnen von der Volksbühne- Familie zum Vorwurf gemacht wird?
Ausdrücke, die nicht von mir stammen, kann ich nicht erklären. Aber ich möchte anfügen, dass auch an deutschen Theatern öfter Texte und Regisseure vorkommen, die sich nicht mit der eng begriffenen deutschen Identität beschäftigen. Milo Rau etwa spielt mit den belgischen Kindern, erzählt afrikanische, russische oder Schweizer Geschichten. Es ist ja nicht so, dass das Theater an eine nationale Identität gekettet wäre.

Aber an eine nationale Sprache. Ist das ein Problem?
Nein, das Theater steht aus einem ganz anderen Grund unter Druck. Dieser kommt nicht von den Gegnern des Theaters, sondern von Menschen, die das Theater lieben und es deshalb hinterfragen. Man will herausfinden, welches Theater es am besten mit der neuen Zeit aufnehmen kann. Muss das Theater dokumentarisch sein? Ein Medium der Authentizität? Wie schnell soll es auf die Aktualität reagieren?

Was erwartet die Zuschauer an der Eröffnung Ihrer Volksbühne im September?
Da wird in allen Sprachen gesprochen, auch in der Sprache des Körpers.

Interview: Ewa Hess © Tages Anzeiger